Kurzgeschichte: Tjark findet was

Beinahe zu spät. Aber noch eben nur beinahe. Tjark zieht die Schnüre hinter sich her. Er stemmt sich in die Seile und zerrt mit seinem ganzen Gewicht daran. Denn nur für Tjarks Kopf zieht Tjark Schnüre hinter sich her, in Wirklichkeit hängt an den Schnüren der Stoff, die Haken und der ganze Kram, ein kompletter Fallschirm eben. Und Tjarks Körper lässt sich nicht so leicht überlisten wie sein Kopf, seine Muskeln haben seinem Verstand die reale Erfahrung voraus, wie so oft.

Tjark hat den Fallschirm unter der Brücke gefunden, ein zwischen Steinen, Grasbüscheln und Dreck eingeklemmtes patschnasses Bündel. Dass es ein Fallschirm ist, weiß Tjark da noch nicht, aber klitschnasse, unter Unrat und verfallenen Gebäuden halb verborgene Dinge interessieren ihn nun einmal.

Deshalb stemmt Tjark sich jetzt in die Schnüre und zerrt das Ding die Uferböschung hinauf, damit er es vor anderen neugierigen Augen besser verstecken kann. Denn unter der Brücke schauen sie immer als erstes nach, wenn sie ihn suchen, und eigentlich auch immer kurz, wenn sie ihn nicht suchen, nur so zum Spaß, um ihn aufzuschrecken. Sein Ziel ist der Waldrand, vielleicht fünfzig unendliche Schritte von der Brücke entfernt.

Aber dafür ist es nun eben nicht mehr nur beinahe zu spät, sondern wirklich zu spät, denn während Tjark sich die Uferböschung hinaufquält und bereits darüber nachdenkt, was sich mit dem Ding in seinem Schlepptau wohl so alles anstellen lässt, schlägt die Kirchturmuhr bereits zum zweiten Mal einmal, und obwohl Tjark nicht zur Schule geht, weiß er, dass die anderen nun auf dem Heimweg sind.

Und da geht es auch schon los, das Geklapper der Holzpantinen auf dem Kopfsteinpflaster, und Tjark steckt mit den Armen in die Schnüre eingewickelt halb unter der Plane verborgen mitten auf der Böschung fest. Er hört Kari, wie immer vorneweg mit weitausgreifendem Eilschritt, dann Olaf und Haakon, die Zwillinge, deren Getrappel unregelmäßig von Schnauben, Fluchen und Klatschen unterbrochen ist, weil sie sich wie immer anrempeln und schubsen, und zuletzt Selma, auch ihre Schritte unregelmäßig, aber nicht, weil jemand anders sie daran hindern würde, zügig nach Hause zu eilen, sondern weil sie träumt, hier eine Blume bewundert und dort den Kopf in den Nacken legt, um den Wolken Namen zu geben.

Tjark steckt fest zwischen und unter seinem Fund und hört, wie es still wird, wie alle vier auf der Brücke anhalten, wohl um auf ihn herunterzuschauen, was er nun wieder angestellt hat. Dann knallt etwas hart auf seinen Kopf und Selma quiekt. Tjark gibt auf, er lässt die Schnüre los und krabbelt zu den anderen nach oben. Selmas Holzschuh nimmt er mit, sie hat ihn nicht absichtlich fallen lassen, das weiß er, wäre es einer von Olaf oder Haakon gewesen, er hätte ihn ins Wasser geschmissen und die Jungs selbst hinterherspringen lassen. Aber Selma ist nicht so, Selma hat selbst schon genug Ärger für Verlorenes bekommen, und sie grüßt auch immer, wenn sie Tjark sieht.

„Was hasteʾn da?“, fragt Olaf.

Tjark antwortet nicht, aber das ist auch egal, weil Haakon ebenfalls nichts sagt, sondern schon die Böschung hinunterkollert und an den Schnüren zerrt.

„Das ist ein Fallschirm“, sagt Kari.

„Echt?“, fragt Olaf, und wieder antwortet niemand, aber das ist wieder egal, weil jetzt auch Olaf ein paar Schritte nach unten springt und seinem Bruder zerren hilft.

Tjark hilft nicht. Es ist sein Schatz, an dem sie da zerren, er hat es gefunden, das Ding, während die anderen in der Schule waren; er ist es, der den Ärger riskiert hat und herumgestromert ist, denn nur so kann man überhaupt Dinge entdecken, und nun werden sie es ihm wegnehmen, wie immer. Das kennt Tjark schon; sie nehmen sie ihm weg, seine Funde, die Uniformjacke, die er aus einem Feld ausgegraben hat – dabei hat er doch nur nach vergessenen Kartoffeln gesucht –, die grauen und gelben Stoffreste, die er aus der Asche am verbotenen Wald gestochert hat – dabei weiß Tjark ganz genau, dass am Wald nichts Verbotenes dran ist, sie wollten nur nicht, dass jemand die Höhlen sieht, in denen die Feldarbeiter geschlafen haben; alles nehmen sie ihm weg, sogar seine Mutter, die haben sie an den Haaren aus dem Dorf geschleift, das hat er gesehen, obwohl er damals auch noch hätte in die Schule gehen sollen.

„Das müssen wir melden“, sagt Kari. Sie klettert auch nicht die Böschung hinunter, sie ist besser mit dem Kopf als mit den Händen, das kennt Tjark schon und wundert sich deshalb nicht, dass Kari sie alle stehen lässt und hinter der Brücke direkt rechts abbiegt, zum Haus des Bürgermeisters. Aber als er Selmas Hand in seiner fühlt, da wundert er sich.

„Komm!“, sagt Selma und hüpft los an seiner Hand, über die Brücke und schräg links hinter den ersten Häusern entlang. Großvaters Garten ist der letzte auf dieser Seite, dahinter fängt auch ein Wald an, ein Wald ohne Höhlen und Verbote, manchmal mit Beeren und einmal hat Tjark sogar ein Eichhörnchen gesehen, und das hat ihm niemand weggenommen, das ist von ganz allein verschwunden.

„Ist was los?“, fragt der Großvater, als er sie durch das knarrende Gartentor hereinkommen hört. „Tjark hat was gefunden“, sagt Selma und der Großvater lacht. Tjark liebt ihn für dieses Lachen und noch mehr für seine Frage. Als seine Mutter noch mit ihnen im Dorf gelebt hat, hat sie nie gefragt, was los sei, immer nur, was Tjark wieder angestellt habe. „Komm, iss mit uns“, sagt der Großvater, und Tjark sieht, wie es Selma weh tut, den Kopf zu schütteln. Sowas sieht Tjark sofort, wenn Leute etwas anderes meinen, als sie sagen, Dinge, die andere verstecken wollen, und wie die anderen den Großvater angucken, weil er Tjark behalten hat, damals als sie seine Deutschenhure von Mutter fortgejagt haben. Nur, dass ein Fallschirm ein Fallschirm ist und eine vergrabene Uniformjacke etwas Offizielles und verkohlte Stoffstücke etwas Verbotenes, das sieht Tjark immer zu spät.

„Ich muss nach Hause“, sagt Selma und Tjark greift hastig etwas vom Tisch, als er sie nach vorne zur Tür bringt, eine Kartoffel, die sie sich in den Mund stopft.

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