Wer is’n das? Nicht so eindeutig. Harry Potter dagegen erkennen alle sofort an seiner Narbe, Sherlock Holmes an Hut und Pfeife. Aber nicht nur äußere Merkmale machen Geschichten-Held*innen unverwechselbar, das können ebenso gut ihre Begleitungen – wie die Schildkröte Kassiopeia bei Momo – sein oder Charaktereigenschaften wie Pippi Langstrumpfs unerschütterlicher Optimismus. Denn Figuren sind das Herzstück einer Geschichte, mit ihnen wollen wir uns beim Lesen identifizieren, an ihnen wollen wir uns reiben, mit ihnen fiebern wir mit, sie hassen oder lieben wir abgrundtief.
Wer selbst schreibt, fragt sich häufig: Wie erschaffe ich unvergessliche Figuren? Die simple Antwort lautet: Indem wir zunächst unverwechselbare Figuren schaffen. Leichter gesagt als getan? Es gibt einige Hilfsmittel, um zu diesem Ziel zu gelangen.
Figurenbiografien anlegen
Überlegt, wie zentral die Figur für eure Geschichte ist, wie intensiv ihr in ihre Vorgeschichte eintauchen wollt. Für die Briefträgerin des Nachbars müsst ihr nicht unbedingt Lieblingsgericht und Kindeheitstrauma kennen, nur um herauszukristallisieren, ob sie eher zurückhaltend “Hallo” murmelt oder immer ein fröhliches “Guten Morgen” schmettert. Aber in eure Hauptfiguren solltet Vorarbeit investieren. Je besser ihr sie kennt, desto sicherer könnt ihr ihre Verhaltensweisen beschreiben. Nehmt sie doch einfach mal mit, wenn ihr unterwegs seid und überlegt, wie sie sich in dieser oder jener Situation verhalten würde: Was würde sie beim Bäcker kaufen? Würde sie jemanden, der seine Zigarettenkippe achtlos wegwirft, darauf ansprechen oder das ignorieren?
Hier noch ein paar klassische Fragen zu Figuren:
- biografische / statistische Angaben: Alter, Wohnort, Familienstand, …
- äußere Merkmale: Größe, Statur, Kleidungsstil, Narben, Tattoos, …
- Ausbildung / Beruf: daraus ergibt sich oft der finanzielle Hintergrund, die Wohnsituation, das Umfeld, aber auch die Sprechweise
- Sprache: Dialekt, Lieblingswörter, Sprachfehler, Bildung, … – besonders wichtig, um Dialoge überzeugend gestalten zu können
- Charakterzüge: positive und negative suchen
- Verhalten: Eigenschaften, Gesten, Einstellungen, …
- Hobbys / Interessen
- Accessoires: Gegenstände, Tiere, Kleidung, …
Im Internet findet ihr zahlreiche Fragen und Biografiebögen als Vorlagen, die ihr für eure Figuren anlegen könnt.
Konflikt, Konflik, Konflikt
So heißt es oft, wenn es um den Kern von Geschichten geht. Damit Konflikte in Erzählungen kommen, müssen die Figuren auf Hindernisse stoßen. Am besten solten diese sich steigern, das heißt, wenn die Hauptfigur das erste (kleine) Hindernis überwunden hat, darf es vielleicht eine kurze Verschnaufpause geben, aber spätestens dann braucht sie die nächste, gewaltigere Herausforderung.
Solche Hindernisse ergeben sich oft, wenn Figuren aufeinanderprallen. Zum Beispiel, weil sie unterschiedliche Ziele verfolgen, die sich nicht miteinander in Einklang bringen lassen. Auf dem Bild: Der Fisch möchte gerne leben, die Figur aber nicht verhungern …
Manchmal liegen die Hindernisse aber auch in den Figuren selbst. Um diesen Weg der Hauptfiguren durch deine Geschichte anlegen zu können, musst du dich mit ihren Wünschen und Zielen beschäftigen. Außerdem interessieren sich Lesende eher für Figuren, die auf etwas hinstreben. Meistens haben Figuren sogar mehrere Ziele, oft ein offensichtliches, äußeres, aber auch ein inneres, was erst später herauskommt. Auch die Motivation der Figur ist für Lesende wichtig, um mit ihr mitfiebern zu können. Aus welchen Gründen will sie ihr Ziel unbedingt erreichen?
Mögliche Motivation von Figuren:
- Anerkennung
- Abenteuer
- Erfolg
- Familie
- Gerechtigkeit,
- Liebe
- Ordnung
- Rache
- Selbstwertgefühl
- Spaß
- Unabhängigkeit
Figurenentwicklung
Statische Figuren sind langweilig. In Geschichten durchlaufen die Held*innen in der Regel eine Verwandlung. Auch darüber solltest du dir vor dem Schreiben Gedanken machen. Wie verändert sich die Figur im Laufe des Textes? Die Motivation, das Ziel oder eine Eigenschaft können sich ändern. Beispiele:
- Die Figur verändert ihr Ziel, weil ihr etwas anderes wichtiger geworden ist (Familie statt Karriere).
- Die Figur muss sich entscheiden: Um ein Ziel zu erreichen, muss sie ein anderes aufgeben.
- Die Figur entwickelt sich charakterlich: Sie wird mutiger, selbstbewusster – oder auch resigniert.
- Die Figur will immer noch dasselbe Ziel erreichen, aber nicht mehr für sich (als Karriere), sondern für andere (aus dem Stoff sind Anwalts-Thriller).
Fast alle Schreibratgeber beschäftigen sich mit dem Thema Figuren. Werf einfach mal einen Blick ins Kreativ-Regal eurer örtlichen Bücherei, dort findet ihr sicherlich Anregungen. Meine erfahrene Kollegin Anette Huesmann stellt auf ihrem Blog eine Reihe von Schreibratgebern vor.
Mehr über die Anlage und Entwicklung von Figuren gibt es auch in zahlreichen Internet-Artikeln, zum Beispiel
- Podcastfolge von Andreas Schuster von Schreiben und Leben im Interview mit Diana Hillebrand
- Anette Huesmann über interessante Figuren
- Kreativ schreiben: Lebendige Figuren entwickeln von Iris Leister – sie entwirft schön praktisch eine Figur anhand von Schreibratgeber-Tipps
Durch Testlesende etwas über die eigenen Figuren herausfinden
… und über die eigene Schreibweise. Austausch ist für Schreibende immer hilfreich. Vielleicht findest du ja in deiner Umgebung, ob real oder virtuell, Gleichgesinnte, mit denen du dich über deine Texte austauschen kannst? Auch Schreibwerkstätten sind dafür ein guter Ort.
Aufschlussreich ist ein Arbeitsblatt, das ich gerne in Kursen einsetze. Die Teilnehmenden lesen dann gegenseitig kurze Textausschnitte und sollen Fragen zu den Geschichten-Stücken der anderen beantworten. Dabei gehen oft viele Lichter auf – was man dachte, dass man deutlich ausgedrückt hätte, aber gar nicht ankommt, und wo man gar nicht so explizit werden muss, weil alles viel schneller verstanden wird.
Was erfährst du in dem Textausschnitt über die Figur?
- Name, Alter, Geschlecht, Größe, Gewicht, …
- Aussehen (besondere Merkmale)?
- Stimme, Sprechweise?
- Beruf, Ausbildung, Arbeit?
- soziales Umfeld, Familienstand, Wohnort?
- Hobbys?
- Charakterzüge, Vorlieben, Abneigungen?
- Was findest du positiv an der Figur, was negativ?
- Welche Rolle / Funktion erfüllt die Figur deiner Meinung nach im Text?
- Was ist dir sonst noch zu der Figur aufgefallen?
Ich lege diese Fragen in einer Tabelle an, in der die Ausfüllenden auch immer angeben sollen, woher aus dem Text sie ihre Informationen haben: Steht das dort ausdrücklich? Wenn ja, wo? Oder aus welchen Angaben hast du diese Schlüsse gezogen?
Knickzettelspiele und mehr
Was ich noch gerne in Schreibwerkstätten mache: Knickzettelspiele. Meistens zur Auflockerung. Funktioniert auch wunderbar für Figuren. Es gibt ein Fragenblatt. Alle beantworten den ersten Punkt, knicken ihre Antwort nach hinten um, geben das Blatt weiter, die nächsten beantworten die zweite Frage, knicken nach hinten um und so weiter. Wenn alle Fragen beantwortet sind, stellt jede*r eine so gemeinsam erschaffene Fantasiefigur vor. Da tauchen schon mal hundertjährige Studierende oder Zwanzigjährige mit fünf Kindern auf und Fußballplatz-Rasenpfleger, die heimlich gebrauchte Pizza-Kartons sammeln … Daraus lassen sich anschließend toll verrückte Geschichten spinnen.
Wer sich intensiver mit dem Schreibhandwerk rund um Figuren beschäftigen möchte, dem empfehle ich die Kurse meiner lieben Kollegin und Autorin Katja Angenent. Zum Beispiel beim 3. Kreativen Schreibmarathon im Schreibraum Münster könnt ihr am 1. November in ihrem Workshop “Lebendige Figuren erschaffen” von ihrer Schreiberfahrung profitieren.
Viel Spaß beim Schreiben und mit euren Figuren!