Es sind besondere Zeiten, um in Taiwan an einem Roman zu schreiben. Alice Grünfelder, Autorin aus Zürich, erfährt das gerade. Denn ihren seit längerem geplanten Aufenthalt hat sie während des Ausbruchs der Corona-Krise in Asien angetreten. Sie beantwortet netterweise ein paar Fragen.
Liebe Alice, was kannst du uns über dein aktuelles Schreibprojekt verraten?
Es geht wie so oft in meinen Texten um blinde Flecken in der Gesellschaft und (Zeit-)Geschichte, dieses Mal um Chinesen, die während des Ersten Weltkriegs in Europa waren.
Wie schaffst du es generell, die riesige Informationsflut beim Recherchieren zu kanalisieren? Dass du dich nicht immer tiefer darin verlierst, immer mehr Material ansammelst, sondern die passenden Spuren verfolgst und zu Charakteren und einer Romanhandlung verdichtest?
Tja, es ist ein wochen-, ja monatelanges Ringen mit dem Stoff, aus dem vielleicht eines Tages Figuren und Gesichter auftauchen. Erst dann kann ich überhaupt anfangen zu schreiben. Ich hatte diese Frage auch einmal der Redakteurin von Wespennest gestellt: Wie soll ich denn aus dem ganzen Stoff eine Figur kreieren? Darauf antwortete sie, dass ich doch auf bei fiktiven Texten Figuren erfinden müsse. Erst da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es ist schon so, dass die Unmenge an Recherchematerial zunächst die schöpferische Gestaltungskraft in mir völlig blockiert.
Und wie gelingt es dir, aus den Sachinformationen lebendige Figuren entstehen zu lassen?
Also zuerst muss ich ein Gesicht vor mir haben, im besten Fall noch einen Namen – das klingt jetzt vielleicht makaber, aber dazu gehe ich oft Friedhöfe ab: Wie hießen die Leute damals und dort? -, daraus kann ich gewisse Charaktereigenschaften ableiten. Das Leben der Figuren, ihre Biografien, die ja immer in die Geschichte einfließen, entnehme ich meinem recherchierten Material. Dabei sind mir Informationen aus erster Hand und vor allem aus dem Alltag wichtiger als Jahreszahlen und die historischen Zusammenhänge, das ist oftmals die Krux bei meiner Recherche – wie bekomme ich O-Töne?
Entwickelst du deine Romane generell so – mit viel Vor-Ort-Recherche?
Das ist bei diesem historischen Roman schon recht außergewöhnlich und komplex: Ich arbeite schon seit zweieinhalb Jahren an diesem Thema, war dafür in verschiedenen Archiven in Frankreich, Belgien und der Schweiz, habe mit Wissenschaftlern in Europa und Asien gesprochen. Für die Schweizer Protagonistin bin ich sogar deren Wege abgegangen. Ich habe das Gefühl, erst wenn ich so viel wie möglich weiß, kann ich aus dem Vollen schöpfen, damit der Roman und die Figuren – hoffentlich – bis ins Detail nachvollziehbar und lebendig, ja glaubhaft sind.
Wie war das bei „Die Wüstengängerin“? Hast du über die Recherche deine Hauptfiguren gefunden, oder hast du dir vorher Protagonisten überlegt und ihre Geschichten mit deinen Entdeckungen unterfüttert?
Den Stoff für die «Wüstengängerin» trug ich viele Jahre mit mir herum, denn ich wollte ein Buch über die Uiguren und deren Schicksal schreiben, da dieses Thema bis vor Kurzem in westlichen Medien völlig unterbelichtet war. Und da ich zuvor bereits zwei Bücher über Tibet herausgegeben habe und mich auch als Sinologin mit der Situation der Nationalitäten in China auseinandersetzte, war der Rechercheaufwand überschaubar. Roxana, eine der beiden Hauptfiguren, war mir sehr vertraut, denn sie birgt viele meiner eigenen Erlebnisse. Linda habe ich erst später entwickelt, das war eher Kopfarbeit, wenngleich auch sie einige meiner Erlebnisse als Dolmetscherin in Tibet widerspiegelt. Jede/r AutorIn reagiert ganz eigen auf bestimmte Impulse, bei mir ist es oft ein Ort oder ein Thema, von dem ich ausgehe, und dann muss ich die Figuren dazu entwickeln. Das ist für mich ein sehr schwieriger Weg, denn ich muss darauf achten, dass die Figuren nicht unter der Last der Informationen ächzen, die ich ihnen mitgebe.
Ich finde deine Schreib-Themen sehr außergewöhnlich. Es ist toll, dass du vergessenen Gruppen in individuellen Charakteren eine Stimme verleihst. Wie stößt du auf diese Themen?
Oft ist es Zufall, ein Randnotiz in einer Zeitung – so wie bei meinem jetzigen Schreibprojekt -, eine Bemerkung, die jemand fallen lässt, die mir eine ganz andere Perspektive auf ein Thema ermöglicht wie bei meinem Text über die KZs auf der Schwäbischen Alb. Mein Essay «Wird unser Mut langen?» über die Friedensbewegung in Mutlangen erzählt vom zivilen Ungehorsam angesichts der Stationierung der Atomraketen; auch etwas, was droht vergessen zu werden. Oder eine dringende Notwendigkeit treibt mich voran wie bei der «Wüstengängerin», endlich über etwas zu schreiben, über das zu schreiben aus politischen Gründen notwendig ist.
Interessiert dich das generell am Schreiben? Echte Menschen, echte Geschichte(n) in einer Romanhandlung zu konzentrieren? Sind es diese Botschaften, ist ein soziales Anliegen, was dich beim Schreiben antreibt?
Tatsächlich ist die Frage nach der Relevanz eines Textes bzw. des Themas für mein Schreiben wichtig. Ich möchte versuchen, spröde Themen über die Fiktionalisierung emotional erfahrbar zu machen, damit die LeserIn eher bereit ist, sich auf das Thema einzulassen. Die Rückmeldungen zur «Wüstengängerin» haben das bestätigt, denn etliche LeserInnen sagten, ein Sachbuch über die Uiguren hätten sie nicht gelesen. Nun aber wüssten sie mithilfe des Romans die Nachrichten über Xinjiang und die Geschehnisse dort viel besser einzuordnen.
Andererseits gab es kürzlich verwunderte Fragen, wieso ich denn in meinen Postkarten aus Taiwan den Corona-Virus ausklammere? Das habe ich tatsächlich nicht bewusst getan, und ich habe mich immer über Autoren gewundert, die inmitten von Krieg und Aufstand Romane ohne jeglichen Zeitbezug geschrieben haben. Doch die Ereignisse rund um den Corona-Virus gehen mir so nahe, dass ich mich lieber an dem Motto des taiwanischen Autor Yang Mu orientiere, der einmal meinte: «How to get involved without being swallowed.»
Magst du uns noch mehr über deine Schreibgewohnheiten erzählen? Hast du feste Tagesstrukturen oder Rituale? Findest du bei einem längeren Projekt immer wieder gut in den Text hinein? Brauchst du Ruhe zum Schreiben oder kannst du es überall und unter allen Umständen?
Huch, das sind genau die Fragen, die den Finger in die Wunde legen. Ich bin leider ziemlich unflexibel, kann immer nur morgens schreiben, und wenn ich morgens keine Zeit habe, komme ich auch nicht zum Schreiben. Zurzeit schreibe ich z. B. gar nicht, weil ich gleich zu Beginn hier in Taiwan merkte, dass ich viel zu neugierig bin und mich alles um mich herum viel zu sehr interessiert, als dass ich auch nur eine vernünftige Zeile zu Papier bringen könnte. Also konzentriere ich mich hier ganz auf meine Recherchen, und ich habe für Monate genügend Material mitgenommen, sodass das auch nicht weiter tragisch ist. Das heißt also, am besten schreibe ich zu Hause an meinem Schreibtisch. Und nein, ich komme überhaupt nicht leicht ins Schreiben, das Schreiben fließt mir auch nicht locker aus dem Handgelenk, ich schreibe auch nie lange, weil mich das Schreiben schnell sehr erschöpft. Womöglich wirkt sich das auch auf den Stil aus, denn je nachdem, was ich wann geschrieben habe, sind die jeweiligen Abschnitte stilistisch ganz anders. Das muss ich dann beim Überarbeiten bedenken. Und ich habe begonnen, ein Schreibtagebuch zu führen, in das ich alle meine Fragen und Zweifel, Ideen und Notizen und z. B. Figurenskizzen hineinschreiben kann, vor allem aber auch meinen Schreibfrust. Und das tut richtig gut.
Liebe Alice, ganz herzlichen Dank für deine Zeit und deine spannenden Antworten!
Wer mehr über Alice Grünfelder – und ihr Schreiben erfahren will, kann den Links im Text sich zu Artikeln auf ihrer eigenen Internetseite folgen und einen Artikel auf telegramme lesen.
Hier im Blog hat sie bereits Fragen rund ums Schreiben mit Kindern und Jugendlichen beantwortet.
Alice und ich sind übrigens beide Mitglied im Texttreff, dem Netzwerk wortstarker Frauen. Dort finden sich Expertinnen für alle Themen rund ums Schreiben.
Fotos: Alice Grünfelder