Im Texttreff, dem Netzwerk wortstarker Frauen, ist das gegenseitige Bewichteln mit Blogbeiträgen eine gute Tradition. Meine liebe Kollegin Nina Bodenlosz hat mir Fragen rund um ihre Märchen-Umschreibungen beantwortet. Ihr aktuelles Buch, “Dornröschen, wir müssen reden”, habe ich auch Ende 2018 als Weihnachtsgeschenk empfohlen – umso mehr freue ich mich, dass sie uns nun einen Blick hinter die Kulissen ihrer Umschreibungen gewährt:
Seit wann schreibst du Geschichten rund um Märchen? Wie ist es dazu gekommen?
Das Spiel mit bekannten Motiven und Figuren fasziniert mich schon längere Zeit. Regelmäßig befasse ich mich mit Märchenumschreibungen seit ein paar Jahren. Ich hatte mit einer Runde Autorinnen die Vereinbarung, jede Woche einen (kurzen) Text zu schreiben und den anderen zu schicken. Niemand war verpflichtet, alle sogenannten Montagstexte zu lesen oder zu kommentieren. Die Verabredung sollte lediglich als Motivationsschub dienen. Tatsächlich schrieb ich viel in diesem Jahr, auch wenn das Schreiben schwierig wurde oder viele andere Dinge zu tun waren. Auf der Suche nach wöchentlichen Themen kam ich aufs Märchen. Mit Leichtigkeit und Vergnügen schrieb ich etliche Märchen um – verdrehte die Handlung, änderte die Hauptfigur oder setzte einen neuen Rahmen. Und je mehr Märchen ich mir vornahm, desto mehr faszinierte mich diese Arbeit.
Wie nennst du deine Texte? Sind es Märchenadaptionen? Hintergrundstorys? Fortschreibungen?
Ich nenne diese Texte gerne Umschreibungen. Ich verändere einige Komponenten und beobachte, was mit der Geschichte passiert. Man könnte es als Experiment begreifen. Ich beobachte, was passiert, wenn ich das eine oder andere Element variiere. Manche Märchen versetze ich in eine andere Zeit. Dann wieder vertausche ich Haupt- und Nebenfiguren, betrachte die Geschichte aus einer anderen Perspektive oder frage mich, was wäre wenn an einem bestimmten Punkt die Handlung etwas anders verlaufen wäre? Ich gehe nicht immer auf dieselbe Weise vor, sondern betrachte das jeweilige Märchen und lasse mich inspirieren, wo ich anknüpfen möchte.
Wie entwickelst du deine Geschichten? Schlägst du ein Märchenbuch auf und pickst einfach eins heraus? Oder nimmst du Märchen, die du gut kennst und die dir deshalb nicht aus dem Kopf gehen?
Ich gehe vom Originaltext aus, also von der Version, die zum Beispiel in der Sammlung der Brüder Grimm zu finden ist. Schon die Lektüre dieses Ursprungstextes kann überraschend sein. Dann nämlich, wenn ich feststelle, dass das Märchen in meiner Erinnerung ganz anders war. Interessant, was wir zuweilen mit diesen Geschichten machen, die wir oft schon als Kinder kennengelernt haben. Wir merken uns eine Version, die vielleicht nur zum Teil dem entspricht, was uns einmal erzählt oder vorgelesen wurde. Was haben wir verändert und warum? Manche Märchen werden in der populären Kultur immer wieder anders erzählt, als sie zum Beispiel von den Grimms aufgeschrieben wurden. So ist davon die Rede, man müsse einen Frosch küssen, damit er sich zum Prinz verwandle. Dabei wird der Frosch im Märchen gegen den Spiegel geworfen und dadurch erlöst. Das ist schon ein bedeutsamer Unterschied, nicht nur in der psychoanalytischen Deutung. So etwas fasziniert mich.
Schreibst du zu denselben Märchen manchmal mehrere Texte?
Zu manchem Märchen habe ich mehrere Umschreibungen verfasst. Das tue ich, wenn ich verschiedene Anknüpfungspunkte für eine andere Version finde. Bei Dornröschen stellte ich mir beispielsweise einerseits die Frage, was geschehen wäre, wenn kein Prinz die Dornenhecke überwunden hätte. Andererseits dachte ich selbst in anstrengenden Zeiten, hundert Jahre Schlaf wäre durchaus eine gute Option. Was wäre also, wenn die Prinzessin sich in den Schlaf geflüchtet hätte und gar nicht das Opfer eines Fluches gewesen wäre? Aus diesen beiden Ideen entstanden zwei Texte mit sehr unterschiedlicher Stimmung.
Was für Märchen nimmst du als Vorlage? Die allgemein bekannten der Gebrüder Grimm und von Andersen oder auch andere? Entwickeln sich für dich bei unterschiedlichen Vorlagen-Autoren auch verschiedene Arten von Geschichten?
Ich wähle Figuren oder Märchen, mit denen ich selbst etwas verbinde und bei denen ich davon ausgehe, dass sie den meisten meiner Leser*innen vertraut sind. Das hat etwas mit dem Reiz des Spiels zu tun: Die Märchenumschreibungen sind deshalb spannend, weil sie mit bekannten Motiven und Figuren spielen, zu denen die Leser*innen eine Beziehung haben. Ich nutze die Erwartungen an die vertraute Version, um zu überraschen.
Meine Märchenumschreibungen sind unterschiedlich. Manche sind lustig, manche erzählen eine komplexe Handlung, manche konzentrieren sich auf ein, zwei prägnante Szenen. Das hat mit dem Ausgangsmärchen zu tun, jedoch weniger mit den Autoren der Vorlagen. Manche Märchen, zum Beispiel der „König Drosselbart“, reizten mich mit ihren Widersprüchen und ihrer aus meiner Sicht unakzeptablen Moral. Hier setzte ich an, um eine eigene Version zu erzählen, in der die Dinge in anderem Lichte erschienen. Das misogyne Märchen über die Zähmung einer stolzen Frau wandelte sich zu einer Geschichte über weibliche Solidarität. Beim Rumpelstilzchen fragte ich mich, ob das Männchen aus dem Walde nicht auch liebenswert sein und mit der Müllerstochter gemeinsame Sache machen könnte gegen den gierigen König und den Müller, der seine eigene Tochter verkauft. So fand ich in den Vorlagen Anknüpfungspunkte für neue, umgekrempelte Versionen. Jedes Märchen ist einzigartig und lud mich zu anderen Veränderungen ein.
2018 ist dein Buch „Dornröschen, wir müssen reden!“ erschienen. Wie hast du die Geschichten für dieses Buch ausgewählt? Liegt dir eine besonders am Herzen?
Ich habe für das Buch Texte gewählt, die unterschiedliche Arten der Umschreibung des Originals repräsentieren. Die meisten Texte enthalten witzige Dialoge und überraschende Wendungen. Ein gemeinsamer Nenner könnte sein, dass sich in jedem Märchen eine Person aus dem vorgegebenen Narrativ befreien kann – und das muss nicht immer die Hauptfigur sein. Ich habe beim Schreiben Spaß am Spiel mit den Erwartungen gehabt und denke, das überträgt sich beim Lesen. Jede Geschichte hat einen anderen Charakter und einen anderen Tonfall – ironisch, politisch-satirisch, böse, lakonisch oder erotisch. Insofern mag ich sie tatsächlich alle auf ihre Weise. Besonders am Herzen liegt mir jedoch „Prinzessin Petersilie“ über eine besondere Mutter-Tochter-Beziehung und eine junge Frau, die bösartigen Männern durch Beharrlichkeit und Klugheit kontra gibt. Ich finde, es ist eine Geschichte über Weisheit und über die Kraft, zu überleben.
Einer meiner Favoriten daraus beruht auf „Des Kaisers neue Kleider“ und erzählt von einem Herrscher, der seine Weisheiten als Papiervögelchen aufs Volk niederregnen lässt … Baust du häufiger ganz aktuelle Bezüge in deine Geschichten ein?
In gewisser Weise haben die alle Geschichten aktuelle Bezüge. Die Figuren verhalten sich meist wie moderne Menschen, die in ferne Zeiten versetzt wurden. Sie sind im Gegensatz zu typischen Märchenfiguren Charaktere mit Wünschen und Gefühlen mit einem Entwicklungspotenzial. Sie handeln aus komplexen Motiven heraus und akzeptieren ihr Schicksal nicht als gegeben. Vor allem die Frauen wollen selbstbestimmt leben und aus dem Rahmen ausbrechen. Die Komik der Texte hat mit dem Bruch zwischen Märchen und Moderne zu tun. Der Prinz sorgt sich um einen Bandscheibenvorfall, Ilsebill ist aus Überzeugung Vegetarierin und Rapunzel sinniert über Haarkuren. Aus dieser Spannung ziehen die Texte ihren Reiz.
Liebe Nina Bodenlosz, ganz herzlichen Dank für dieses Interview! Mehr über die Autorin erfahrt ihr auf Ihrer Internetseite. Dort gibt es auch einige ihrer Märchengeschichten – und andere großartige Texte – zu lesen.
Bilder:
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- Foto Nina Bodenlosz: Ruth Frobeen
- Zeichnungen und Buchcover: Katarina Pollner
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