Wenn diese Skulptur eine Geschichte von Stephen King wäre, spritzte sicherlich Blut statt Wasser aus den diversen Löchern in den menschlichen Körpern. Ein Kopf ist gleich ganz weg; dafür liegt einige Meter entfernt ein Gipsblock herum, der keinerlei Zusammenhang zu haben scheint – aus dem es jedoch ebenso sprudelt wie ein feiner Sprühnebel aus der Schnecke auf der Schulter einer weiteren Figur kommt.
Kaum ein Objekt der diesjährigen Skulptur-Projekte in Münster war so präsent in der Öffentlichkeit (abgesehen von Ayşe Erkmens Steg im Hafenbecken, durch den man beinahe über das Wasser laufen konnte) wie die “Skizze für einen Brunnen” von Nicole Eisenman, weil hier wortwörtlich Köpfe gerollt sind. Nicht die der Verantwortlichen, sondern die der Figuren. Abgeschlagen, mit Farbe verunstaltet, einer wiedergefunden, aber keiner erneut angebracht. Außerdem befand sich der Brunnen auf einer Wiese direkt unterhalb der Promenade, weshalb täglich viele, viele Menschen an diesem Ort vorbeigekommen sind.
Eine Skizze als Schreibimpuls nutzen
Auch wir mit unserer Schreibgruppe sind vorbeigekommen. Und so ist mein Text entstanden, der eine ganz andere Erklärung dafür liefert, was es mit den rollenden Köpfen so auf sich hat …
“Was soll der ganze Scheiß bloß?”
Hanno merkt erst, als er den dicken Katalog auf die Erde knallt, dass er tatsächlich laut gedacht hat. Er blickt sich um, aber es ist niemand im Park.
Außer ihm.
Kein Wunder. Fünf Uhr morgens, schon hell, aber definitiv, bevor die meistens Leute zur Arbeit fahren. Und die, die nicht zur Arbeit fahren, sind um diese Zeit erst recht nicht unterwegs.
Außer Hanno.
Es ist weder Arbeit noch Freizeit, was er hier tut.
“Sie haben doch studiert”, hat der Berater zu ihm gesagt. “Ich hätte da was für Sie. Zwar nur für den Sommer, aber es ist ein Anfang.”
Hanno hat es sich geschenkt, dem Berater zu erklären, was es mit seinem Slawistik-Studium auf sich hat, und den Katalog mitgenommen.
Und jetzt sitzt er hier, morgens um fünf, im Park, am Hafenbecken, in Gassen und unter Plätzen, um auswendig zu lernen, was die Künstler mit ihren Objekten zeigen wollen.
Denn sehen kann man es nicht.
Zumindest Hanno nicht. Für ihn ist dieser Brunnen bloß ein Wasserbecken, um das fünf überdimensionierte, potthässliche Gestalten herumlungern. Nichts von Materialgegensatz, nichts von der Vergänglichkeit des Seins sieht er, nur dicke Metallwürmer, die dem Hingucker beinahe durch die Füße wachsen und Hanno an Jesus erinnern.
Wenn er sich jetzt noch vorstellt, wie seine Gruppen mit ernster Miene den Figuren ins Gesicht oder zwischen die Beine starren werden, weiß er nicht, wie er dabei ernst bleiben soll. Ein Selfie hier, eine schnell hingeworfene Skizze da, eine Schreibgruppe auf einer geblümten Picknickdecke in seinem Rücken – Hanno sieht sie bereits lebhaft vor sich, all die Kunstliebhaber mit Brillenbügel im Mundwinkel und stets einer schlauen Frge auf den Lippen.
Hanno packt den Katalog und schmeißt ihn Richtung Skulpturen. Er trifft einen Kopf und der – bricht ab.
“Scheiße!”, ruft Hanno schon wieder laut und läuft hin.
Drei Tage Dauerregen und der Gips ist so aufgeweicht, dass jeder Hans und Franz etwas hätte abbrechen können. Nur dass er, Hanno, es jetzt tatsächlich getan hat.
Hektisch blickt er sich um. Immer noch niemand zu sehen. Hastig wickelt er den Kopf in seine Regenjacke und macht, dass er davonkommt.
Gleich wird er zum Amt fahren. Er muss nur noch kurz das Ding entsorgen, dann wird er dem Berater sagen, dass das mit den Führungen nicht so sein Ding ist. Aber gleich ein neues Jobprofil vorschlagen: gefährdete-Skulpturen-in-Regenplanen-Einpacker.
Mehr über die “Skizze für einen Brunnen” von Nicole Eisenman
Besonders spannend an der Idee, die Skulptur-Projekte als Schreibanlass zu nehmen, finde ich, aus Kunst neue Kunst entstehen zu lassen. Das nimmt doch direkt die Gedanken um die Vergänglichkeit der Materialien von Nicole Eisenman auf.
Mehr über ihre “Skizze für einen Brunnen” gibt es zum Beispiel im Art-Magazin und in den Westfälischen Nachrichten, der Münsterschen Lokalzeitung, zu lesen. Mal schauen, ob er dauerhaft in Münster bleibt; eine Initiative setzt sich bereits dafür ein.
Im Oktober habe ich schon einen Text über ein anderes Skulptur-Projekt veröffentlicht: über Tender Tender von Michael Dean.