Flash Fiction – Gastbeitrag von Dr. Dorothée Leidig

Was ist Flash Fiction?

In Zeiten des Internets wächst die Nachfrage nach kürzeren Texten, die leichter und schneller auf einem Computerbildschirm zu lesen sind. Das gilt auch für literarische Texte. Die Textsorte, die sich hier herausgebildet hat, heißt „Flash Fiction“. Dabei handelt es sich um eine Geschichte mit einer Länge von 300 bis 1.000, manchmal auch bis zu 2.000 Wörtern.

Flash Fiction und die traditionelle Kurzgeschichte

Die Wurzeln der Flash Fiction liegen in der traditionellen Kurzgeschichte (ewa 3.000 bis 20.000 Wörter ). Die sehr kurzen Erzählungen von Franz Kafka – wie etwa „Der Aufbruch“ oder „Der Kreisel“ – oder Brechts „Geschichten vom Herrn Keuner“ könnte man durchaus als Flash Fiction bezeichnen. Manche von Brechts Keuner-Geschichten sind sogar so kurz, dass man sie unter Micro Fiction fassen könnte (Micro Fiction hat eine Länge von 10 bis 300 Wörtern). Genau wie die traditionelle Kurzgeschichte braucht auch Flash Fiction einen Protagonisten oder eine Protagonistin, einen Konflikt und die Auflösung. Aufgrund ihrer Kürze kann Flash Fiction jedoch vieles, was in der Kurzgeschichte ausgeführt wird, nur anreißen. Flash Fiction besteht in aller Regel aus einem einzigen Akt, gelegentlich auch aus einer Ansammlung mehrerer angedeuteter Ereignisse.

Flash Fiction – eine Methode, die sich auch für längere Prosa und Lyrik eignet

In ihrer Kürze verlangt Flash Fiction eine hohe Konzentration auf das Wesentliche. Ihre  Methodik ist deshalb auch bestens für alle geeignet, die längere Prosatexte oder Lyrik verfassen. Wer lange Prosa schreibt und sich in Flash Fiction übt, wird an Klarheit und Stringenz gewinnen, und wer Lyrik schreibt, kann damit eine Art Vorkonzentrat erzeugen. Das Schöne daran ist: Wenn man es als Übung nimmt, kann man es ganz spielerisch und leicht angehen, denn es kommt vor allem auf den Prozess an, das Ergebnis ist ja nur als ein Probestück gedacht.

Zutaten für Flash Fiction

Im Folgenden stelle ich Ihnen einige Zutaten für das Schreiben von Flash Fiction vor, die Sie einzeln oder als Kombination verwenden können.

  • Die kleine Idee (1)
    Suchen Sie nach den kleineren Ideen innerhalb eines größeren Zusammenhangs. Ein Beispiel: Um komplexe Familienstrukturen  oder eine Familiengeschichte darzustellen, braucht man einen Roman oder mindestens eine längere Erzählung. Gehen Sie auf die Suche nach einem lohnenswerten Ausschnitt aus diesem vielschichtigen Thema: Wie fühlt sich ein Kind, wenn es von einem Gespräch ausgeschlossen wird? Auf welche Ideen kommen Kinder, wenn sie sich auf einer Autofahrt langweilen? Was ist ein besonderes Problem des mittleren von drei Geschwistern oder des einzigen Mädchen unter lauter Jungen?  Ein schlechtes Zeugnis, ein verlorener Hausschlüssel, ein sehnlicher Wunsch wären weitere Themen. Greifen Sie sich solch ein kleines Thema heraus und bauen Sie Ihre Flash Fiction darauf auf.
  • Dampfen Sie die Vorgeschichte ein (2)
    Wenn Sie Flash Fiction schreiben, haben Sie keine Zeit für verzwickte Vorgeschichten. Finden Sie einen Weg, um alles, was von der Vorgeschichte für das Verständnis Ihres Textes unbedingt notwendig ist, in einem ersten kurzen Absatz unterzubringen. Wenn Sie keine Vorgeschichte brauchen – umso besser! Dann können Sie gleich mit dem nächsten Schritt fortfahren.
  • Beginnen Sie Ihre Geschichte mitten im Geschehen (3)
    Steigen Sie nach dem ersten Absatz (s. o.) oder gleich mit dem ersten Satz unmittelbar in die   Geschichte ein: Ein Kind auf dem Rücksitz eines Autos zerpflückt den Inhalt von Mutters Handtasche samt Fahrzeugpapieren. Ein Mann rennt die Straße hinunter. Ein Einkaufswagen kracht in ein Regal mit Flaschen. Ein Haus brennt. Beschreiben Sie nicht mehr als nötig. Der Leser, die Leserin ist durchaus in der Lage, einige der Leerstellen auszufüllen.
  • Konzentrieren Sie sich auf ein starkes Bild (4)
    Ein Bild kann Ebenen Ihrer Geschichte vermitteln, die Sie mit Worten kaum fassen können, schon gar nicht in der gebotenen Kürze. Suchen Sie ein wirkungsvolles Bild für Ihre Geschichte: Ein Scherbenhaufen, ein bizarrer Sonnenuntergang, eine nicht angerührte Mahlzeit …
  • Lassen Sie die Leserin, den Leser im Ungewissen (5)
    Ein kleines Geheimnis, eine mitlaufende Ungewissheit ist ein gutes Mittel, um die Aufmerksamkeit zu binden. Wenn Sie Ihre Leserschaft möglichst lange neugierig darauf halten, was wohl hinter der Ungewissheit steckt oder wohin sie führt,  wird sie Ihnen bis zum Ende folgen. Am Ende sollten Sie Ihre Leserinnen und Leser mit einer guten oder überraschenden Lösung belohnen.
  • Arbeiten Sie mit Anspielungen (6)
    Wenn Sie auf eine allgemein bekannte Geschichte anspielen, können Sie sich viele Worte und Umwege sparen. Historische Ereignisse oder berühmte Situationen aus der Literatur eignen sich ganz hervorragend dafür. Der Untergang der Titanic ist zwar nicht gerade das orginellste Beispiel, aber eines der berühmtesten und anschaulichsten. Eine Geschichte, die auf der Titanic spielt, läuft unweigerlich auf eine Katastrophe zu, da muss man nicht mehr viel erklären. Die historische Überlieferung und der Kinofilm haben es schon für Sie getan. Eine Geschichte auf einem anderen Schiff braucht deshalb nur einen kleinen Hinweis auf die Titanic, und schon haben Sie eine spannende Spur gelegt. Der Untergang der Titanic ist so tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben, dass Sie Anspielungen darauf  sogar in anderen Zusammenhängen effektvoll einsetzen können, auf der sichersten Gondelfahrt der Welt etwa oder beim Wüsten-Trekking. Literarische Beispiele wären Romeo und Julia, Goethes Werther oder auch die Volksmärchen der Gebrüder Grimm. Wenn Sie sich ein wenig auf die Suche geben, werden Sie schnell originellere historische und literarische Beispiele finden. Eine Warnung zum Schluss:  Gestalten Sie Anspielungen nicht zu mysteriös, das schreckt ab. Ihre Leserschaft sollte ohne Hirnverknotungen die beabsichtigten Verbindungen herstellen können.
  • Überraschende Schlusswendung (7)
    Flash Fiction lässt Ihnen nur sehr wenig Zeit, um Ihre Geschichte zu entwickeln. Sie können weder differenzierte Charaktere aufbauen noch subtile Langzeitwirkungen des Geschehens verfolgen. Die Wirkung von Flash Fiction entsteht viel mehr durch die straffe Führung der Handlung und geschickte Reduktion auf das Wesentliche. Eine überraschende Wendung am Ende der Geschichte erlaubt Ihnen einen Abschluss, der im Gedächtnis bleibt und so über die kurze Geschichte hinauswirkt. Das kleine Geheimnis (s. Punkt 5) kann Ihnen dabei helfen. Man könnte auch sagen: Flash Fiction funktioniert ein bisschen wie ein guter Witz, ist allerdings vollkommen frei vom Zwang zur Komik.

Dieser Beitrag zur Flash-Fiction erschien zuerst im Autorennewsletter The Tempest, einem monatlichen Service mit vielen Tipps rund ums Schreiben und Veröffentlichen.

Mehr über Dr. Dorothée Leidig, ihre Schreibwerkstätten und Texte gibt es auf ihrer Internetseite textsieben.

Weiteres über Flash Fiction, vor allem im englischsprachigen Raum, gibt es auf der Wikipedia-Seite.

Diese Literaturpostkarte, die ich mit dem Illustrator Volker Konrad zusammen entworfen habe, wäre ein passendes Beispiel für einen besonders kurzen Text – eher Mikro- als Flash-Fiction …

Mit Netzwerken zum Zug kommen: Literatur-Postkarte mit Volker Konrad und totem Nashorn

 

 

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